
Mit Herz und Präsenz – Kalyāṇamitra und Spiritual Care
Geburten und Abschiede sind Passagemomente, in denen das Leben still und weit wird. In diesem Blogbeitrag teile ich meine Gedanken über Spiritual Care – eine Haltung, die der Seele Raum gibt. Für das, was keinen Plan braucht, aber echte Begleitung.
In Momenten des Übergangs – bei Geburt, Sterben oder tiefgreifenden Veränderungen – sehnen wir uns nach mehr als nur professioneller Unterstützung. Wir wünschen uns ein Gegenüber, das mit offenem Herzen präsent ist, ohne zu bewerten oder zu drängen. Im Buddhismus wird eine solche Begleitung als Kalyāṇamitra bezeichnet – ein „edler Freund“ oder eine „edle Freundin“ auf dem spirituellen Weg.
Ich begleite Menschen am lebensanfang -und Ende– zwei scheinbar entgegengesetzte Momente – und doch haben sie etwas Gemeinsames: Das Leben wird in diesen Passagemomenten ganz pur, ganz echt, ganz nah.
In beiden Situationen geht es nicht nur um den Körper bzw. um medizinische Entscheidungen oder Abläufe. Es geht auch um das, was in der Tiefe geschieht – im Herzen, in der Seele. Jeder Mensch ist spirituell. Gerade in existentiellen Lebenssituationen wie Geburt, Lebensbrüchen, schwerer Krankheit, Sterben und Tod kann Spiritualität eine grosse Ressource sein.
Spiritualität ist hier nicht gleichzusetzen mit Religion sondern meint etwas Weiteres. Es ist die Suche nach Sinn und Identität, Verbindung und Transzendenz. Das Bedürfnis nach Verbundenheit – mit sich selbst, mit anderen, mit etwas Größerem. In solchen Momenten geht es weniger um Antworten, sondern um ein Mitfühlen.
Was Spiritual Care im Ursprung bedeutet
In der modernen spirituellen Begleitung, insbesondere in der Geburtshilfe und Palliativversorgung, findet das Konzept des Kalyāṇamitra bei uns unter dem Begriff Spiritual Care eine zeitgemäße Anwendung. Diese medizinische Ausrichtung stammt ursprünglich aus der Hospizbewegung, der Palliativmedizin und der Psychoonkologie und beschreibt ein spirituelles Sorgekonzept, das die existenziellen und spirituellen Bedürfnisse einzelner Menschen in den Blick nimmt – gerade dann, wenn das Leben sich verändert, verlangsamt, verdichtet oder an eine Grenze kommt. Leider ein Thema, dass in der medizinischen Pflege noch sehr unbeackert ist.
Es bedeutet auch, mit Grenzen umzugehen, mit der Ohnmacht, wenn nichts mehr „zu machen“ ist, mit dem Unaussprechlichen, das jenseits der Worte liegt – eine Grenzkompetenz, die dann wichtig ist, wenn uns das Leben herausfordert.
Unterstützungsangebote, die in die Kraft führen
Spiritual Care stellt die Frage:
Was stärkt? Was verbindet? Was wirkt über den Moment hinaus? Nicht immer sind es große Rituale oder viele Worte, die Kraft spenden.
Oft sind es kleine, konkrete Dinge, die als heilsam empfunden werden:
- Ansprechpartnerin sein für existentielle Fragen
- Zuhören
- Stärkung der inneren Kraftquellen durch Visualisierung, positive Worte oder schlicht durch das Halten von Stille und Präsenz
- der vertraute Duft eines Lieblingsessens
- ein Spaziergang an einem bedeutsamen Ort
- gemeinsames Erinnern an bedeutende Lebensmomente
- das Würdigen der eigenen Lebensgeschichte
- eine wohltuende Berührung oder Massage
- stille Momente des Innehaltens
- Gebet, Meditation oder bewusstes Atmen
Diese Angebote helfen, über die momentane Angst, Sorge oder Gebrechlichkeit hinauszublicken und neue Kraft zu schöpfen. Manchmal reicht es auch, einfach da zu sein, Auge und Ohr für die Ausdrucksformen des seelischen Lebens zu öffnen – und ihnen Raum zu geben.
Spiritualität am Lebensanfang
Geburt ist ein zutiefst transformierendes Erlebnis. Es kann berühren, erschüttern, öffnen, stärken oder verunsichern – manchmal alles zugleich. Eine spirituelle Begleitung hilft dabei, diese Schwelle bewusst zu erleben, und trägt dazu bei, dass Frauen und Familien gestärkt aus dem Geburtserlebnis hervorgehen – auch wenn nicht alles „nach Plan“ läuft. Sie spielt für mich besonders in der Vor- und Nachsorge eine wichtige Rolle:
Wenn existenzielle Fragen oft leise mitschwingen, Gefühle nachhallen, Geburtserfahrungen verarbeitet werden wollen oder wenn der Übergang ins Elternsein anders verläuft als erwartet.
Wenn ein neues Leben beginnt, wird auch oft das eigene Leben neu befragt:
- Was trägt mich in dieser Umbruchzeit?
- Wofür will ich Raum schaffen?
- Was macht mir Angst?
- Wer bin ich dann – und wer will ich sein?
Spiritual Care ist die Einladung, innere Prozesse zu sehen und ernst zu nehmen.
Wie in der palliativen Versorgung gilt auch hier:
Spirituelle und seelische Bedürfnisse sind kein Zusatz – sie sind Teil des Ganzen. Ein Gesundheitssystem, das Menschen ganzheitlich begleiten will, darf diese Ebenen nicht ausblenden – nicht erst am Lebensende, sondern überall dort, wo das Leben seine Tiefe zeigt.
Warum das Thema so wichtig ist
Meine Erfahrung zeigt mir, dass es oft gar nicht die großen Antworten sind, die Menschen in diesen existenziellen Momenten brauchen. Sie wünschen sich Raum für das, was gerade da ist. Für das, was sich zeigen will – oder auch noch nicht kann. In Lebensübergängen suchen Menschen Sicherheit und Verbindung.
Ob bei der Geburt oder beim Sterben – Menschen kommen mit sehr ähnlichen Fragen: Bin ich sicher? Ist jemand bei mir? Darf ich fühlen, was ich fühle? Die Themen sind oft überraschend gleich: Loslassen, Kontrolle abgeben, sich zeigen, Vertrauen, manchmal auch Wut, Angst, Dankbarkeit, Schuld, Liebe. Und doch hat jeder eine andere Art von Spiritualität, allein kulturell beding. Spiritual Care nimmt diese Bedürfnisse ernst. Es geht um mehr als nur Trost und Beistand – es geht darum, den Menschen in seiner Ganzheit zu sehen, mit seiner Geschichte, seinen Fragen und Sehnsüchten. So ist es auch möglich auch am Lebensende eine spirituelle Heilung zu erlangen und somit vor dem Ableben inneren Frieden zu finden, loslassen zu können.
Ich habe durch meine Arbeit erfahren, dass Menschen nicht alleine sein wollen, wenn etwas Großes passiert.
Sie wollen gesehen werden – nicht als Patient oder Kranke, sondern als Mensch.
Und die, die es nicht aktiv wollten, merken oftmals im Nachhinein, wie wichtig diese Art der Begleitung ist – vor allem für Erstgebärende.
Wenn wir Menschen an den Schwellen des Lebens begleiten – mit Achtsamkeit, mit Offenheit, mit einem offenen Herzen – dann kann etwas Heilsames geschehen. Dann wird aus Angst Vertrauen, aus Schmerz ein Moment der Nähe, aus Abschied ein friedlicher Übergang, und aus einem Umbruch ein neuer Anfang. Das habe ich oft erleben dürfen. Eine empathische, spirituelle Begleitung kann helfen, dass solche Passagemomente nicht nur überstanden, sondern gestaltet werden – in Würde, in Verbindung und im Vertrauen auf das Leben selbst.
Spiritual Care ist nichts Esoterisches – es ist etwas Menschliches
In einer Welt, die oft auf schnelle Lösungen fokussiert ist, bietet Spiritual Care etwas anderes:
Ein Gegenüber, das bleibt – auch in Unsicherheit und Ohnmacht; begleitet, ohne zu drängen;
da ist, ohne zu überreden; wahrnimmt, ohne zu bewerten. Eine Person, die uns auf unserem spirituellen Weg begleitet – mit Mitgefühl, Weisheit und Präsenz. Und dafür gibt es keinen festen Plan, denn jeder Mensch ist anders, jede Situation einzigartig. Was zählt, sind Offenheit, Achtsamkeit und Mut, Halt zu geben, wo Halt gebraucht wird – sanft, echt und still, wenn es erforderlich ist.
Es ist nichts Esoterisches, nichts Neues – sondern zutiefst menschlich.
Unterstützende Quellen
SPIRITUAL CARE. ÜBER DAS LEBEN UND STERBEN – Eckhard Frick
DGP – Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin
Spiritual Care & Existential Care interprofessionell (OAPEN)
„Spiritual Care“: Seelen-Sorge am Krankenbett – Eckhard Frick über eine neue Disziplin der Medizin